21. Juli 2025 | Heinz W. Süess
Der Fachkräftemangel in der Pflege hat dazu geführt, dass immer mehr Pflegefachpersonen aus dem Ausland – insbesondere aus Indien – in Schweizer Spitälern arbeiten. Damit diese wertvollen Mitarbeitenden langfristig motiviert bleiben und ihr volles Potenzial entfalten können, braucht es mehr als nur einen Arbeitsvertrag. Eine gelungene Integration ist der Schlüssel – zur Zufriedenheit der indischen Pflegekräfte, zur Stabilität im Team, zur Entlastung der Pflegedienstleitung und zur Qualität der Patientenversorgung.
Nach dem theorischen Blog Teil 1 nun einige praktische Inputs. Die Quellen sind dann wieder der Einfachheit wegen unten angeführt.
Beispiel 1: Dr. Ravi – Facharzt für Anästhesie in einem Schweizer Spital
Hintergrund:
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Ausbildung in Indien abgeschlossen, dann Facharztausbildung in Deutschland, später in die Schweiz gezogen.
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Beherrscht Deutsch auf C1-Niveau (Goethe-Zertifikat), zusätzlich Englisch und Tamil.
Integrationserfolg:
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Wird von Pflegepersonal und ärztlichem Team als kollegial und zuverlässig geschätzt.
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Zeigt hohe Anpassungsfähigkeit im Umgang mit Hierarchien und Entscheidungswegen im Schweizer System.
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Übernimmt die Supervision für jüngere Assistenzärzte – auch Schweizer.
Besonderheiten:
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Hat interkulturelle Schulungen besucht und gibt selbst Schulungen zu „kultureller Sensibilität in der Notaufnahme“.
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Hat kleine kulturelle Missverständnisse (z. B. Zurückhaltung bei direkter Kritik) aktiv reflektiert und daran gearbeitet.
Beispiel 2: Nurse Priya – Pflegefachfrau in einem deutschen Kreiskrankenhaus
Hintergrund:
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Ursprünglich aus Kerala, Indien.
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Kam über ein Pflegeanwerbungsprogramm nach Deutschland.
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Hat eine intensive Sprachförderung über ein Jahr absolviert und B2-Niveau erreicht.
Integrationserfolg:
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Arbeitet selbstständig auf der geriatrischen Station, wird von Patient:innen als „sehr zugewandt“ beschrieben.
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Gute Beziehungen zu Kolleg:innen, nimmt regelmässig an Teambesprechungen teil.
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Ist aktiv in einem interkulturellen Pflegeprojekt im Haus tätig.
Besonderheiten:
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Anfangs kulturelle Unterschiede im Umgang mit Sterbenden (Offenheit über Tod) – hat darüber offen gesprochen und gelernt, wie das in Deutschland gehandhabt wird.
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Engagiert sich als Mentor für neue Pflegekräfte aus Indien.
Beispiel 3: Anerkennung scheitert – Rückkehr nach Indien
Person: Pflegefachfrau aus Mumbai
Ort: Grosses Klinikum in Süddeutschland
Hintergrund: Abschluss in Krankenpflege (B.Sc. Nursing), Deutschkurs bis B1-Niveau vor Einreise
Problem:
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Sprachkenntnisse reichten im Alltag nicht aus, besonders im Umgang mit dementen Patient:innen.
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Fachsprache und Dokumentation (Pflegediagnosen, Pflegeplanung) bereiteten große Schwierigkeiten.
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Die Anerkennung durch die zuständige Landesbehörde verzögerte sich über ein Jahr.
Folge:
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Frustrierende berufliche Dequalifizierung (arbeitete als Pflegehelferin).
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Verlor das Vertrauen in das System und entschied sich zur Rückkehr nach Indien.
Beispiel 4: Kulturelle Missverständnisse im Team
Person: Indischer Pfleger aus Kerala
Ort: Pflegeheim in Österreich
Problem:
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Gewohnt an sehr hierarchische Arbeitsstrukturen – hatte Schwierigkeiten mit flachen Hierarchien.
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Sprachliche Barrieren führten zu Missverständnissen bei Medikamentengabe.
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Wurde von Kolleg:innen (unabsichtlich) ausgegrenzt – z. B. bei Pausen oder humorvoller Kommunikation.
Folge:
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Psychosoziale Belastung (Isolation, Homesickness).
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Kündigte innerhalb von 6 Monaten.
Beispiel 5: Überforderung im klinischen Alltag
Person: Pflegekraft aus Tamil Nadu
Ort: Akutspital in der Schweiz (Innere Medizin)
Problem:
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Hoher Dokumentationsaufwand im Spital war nicht mit dem gewohnten Arbeitsstil vereinbar.
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Schnelles Reagieren in Notfallsituationen ohne klare Anweisung fiel schwer.
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Sprachlich kompetent – aber kulturell gehemmt, Feedback zu geben oder eigene Grenzen zu äussern.
Folge:
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Entwickelte Burnout-ähnliche Symptome.
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Wurde versetzt auf eine weniger belastende Station – verliess das Haus später dennoch.
Beispiel 6: „Falsche Versprechungen“ durch Vermittlungsagentur
Person: Indische Pflegefachkraft, 24 Jahre
Ort: Pflegeheim in Norddeutschland
Vermittlung: Private Agentur versprach gute Bezahlung und schnelle Anerkennung
Problem:
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Bei Ankunft nur Pflegehelfer-Stelle trotz vollwertigem Studium in Indien
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Unterbringung in überfülltem Wohnheim, keine Deutschförderung vor Ort
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Anerkennung verzögerte sich wegen fehlender Unterlagenübersetzung
Folge:
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Psychische Belastung, Vertrauensverlust gegenüber Arbeitgeber und Agentur
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Verliess die Stelle nach wenigen Monaten, später juristischer Streit um Vertragsbindung
Beispiel 7: Fehlende Einbindung ins Team
Person: Pflegekraft (weiblich), 30 Jahre, mit B2-Zertifikat
Ort: Krankenhaus in Südtirol
Problem:
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Kolleg:innen sprachen vorwiegend im Dialekt → sie fühlte sich ausgeschlossen
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Kein systematisches Onboarding – wurde direkt in den Frühdienstplan integriert
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Vorurteile im Team: „Die kriegen eh alles bezahlt vom Staat“
Folge:
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Rückzug, Unsicherheit, kaum Rückfragen gestellt
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Entstandene Fehler bei Medikamentengabe → formelle Abmahnung
Beispiel 8: Fehlendes Verständnis für interkulturelle Pflege
Person: Pflegekraft, männlich, aus Chennai
Ort: Geriatrie-Station in einer bayrischen Klinik
Problem:
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Sprachlich solide, aber Probleme im Umgang mit Patient:innen mit Demenz
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Wusste nicht, wie man mit „herablassenden“ oder rassistisch konnotierten Äusserungen von älteren Patient:innen umgeht
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Arbeitgeber gab keine Schulung oder Unterstützung zu diesem Thema
Folge:
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Innerer Rückzug, Unsicherheit, keine Initiative mehr im Patientenkontakt
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Wechselte die Station – mittelfristig jedoch Kündigung
Risikofaktoren (aus Praxisberichten):
| Kategorie | Risiko |
|---|---|
| 🔤 Sprache | Sprachkurs zu kurz / ohne Fachbezug |
| 🧭 Systemwissen | Kein Wissen über DRG, Pflegeprozess, MDK |
| 👥 Teamdynamik | Ausgrenzung, kein Buddy-System |
| 🧠 Rolle/Selbstverständnis | Andere Rollenbilder aus Ausbildung |
| ⚖️ Rechtliche Unsicherheit | Anerkennung verzögert, Arbeitsrecht unbekannt |
Best Practice: Erfolgreiche Interventionsmassnahmen
1. Sprachförderung mit Pflegebezug
Wo: Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), Klinik Hirslanden Zürich
Maßnahme:
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Deutschkurse bis B2/C1 mit medizinischer Fachsprache (Pflegedokumentation, Anamnese, Umgang mit Patient:innen)
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Simulationstraining auf Deutsch (z. B. Notfallkommunikation)
Erfolg:
Erhöhte Sicherheit im Arbeitsalltag, bessere Integration in Teambesprechungen
2. Mentoring- & Buddy-Programme
Wo: Klinikum Dortmund, Charité Berlin, Kantonsspital Luzern
Massnahme:
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Jede neue internationale Pflegekraft erhält eine feste Bezugsperson im Team
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Regelmässige Feedback-Gespräche, Begleitung im ersten Jahr
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Tandem-System: Peer-to-Peer-Unterstützung zwischen neuen und erfahrenen Kolleg:innen
Erfolg:
Reduziert Einsamkeit und Missverständnisse, stärkt Bindung ans Haus
3. Interkulturelle Sensibilisierung des gesamten Teams
Wo: Diakonissenkrankenhaus Mannheim, Pflegeheim St. Anna Luzern
Maßnahme:
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Schulungen zu kulturellen Unterschieden in Kommunikation, Hierarchie und Nähe-Distanz
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Thematisierung von Alltagsrassismus & Mikroaggressionen
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Rollenspiele und Fallbesprechungen mit echten Situationen
Erfolg:
Stärkeres gegenseitiges Verständnis und fairere Teamdynamiken
4. Transparente Anerkennungsverfahren & Begleitung
Wo: Agaplesion Frankfurt, Asklepios Gruppe
Massnahme:
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Unterstützung bei Behördenkontakten und Übersetzungen
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Interne Vorbereitung auf Fachsprachenprüfung und Kenntnisprüfung
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enge Zusammenarbeit mit Landesprüfungsämtern
Erfolg:
Weniger Frust durch Bürokratie, schnellere Anerkennung
5. Psychosoziale Begleitung & Community-Building
Wo: Vivantes Berlin, Universitäts-Spital Basel
Massnahme:
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Interne Anlaufstellen für psychosoziale Fragen (z. B. Integrationslots:innen)
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Vernetzungstreffen für internationale Pflegekräfte
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Feste, interkulturelle Cafés, WhatsApp-Gruppen zur Unterstützung
Erfolg:
Reduziert Rückzug und psychische Belastung – fördert Zugehörigkeit
6. Berufliche Perspektiven klar kommunizieren
Wo: Pflegezentren der Diakonie Bayern
Massnahme:
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Transparente Aufstiegsmöglichkeiten: von Pflegehelfer:in zur Teamleitung
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gezielte Weiterbildungsangebote (Wundpflege, Palliative Care, Führung)
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Angebote für Sprachzertifikate und Fachweiterbildungen
Erfolg:
Höhere Motivation, langfristige Mitarbeiterbindung
7. Anpassung von Dienstplänen in der Anfangsphase
Wo: Pflegeheim Rosenau, Basel
Massnahme:
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Schonendere Schichtvergabe in den ersten 3–6 Monaten
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Berücksichtigung von Sprachbedarfen bei Patienten-Zuweisung
Erfolg:
Vermeidung von Überforderung, bessere Eingewöhnung
Fazit: Was sich besonders bewährt hat
| Massnahme | Wirkung |
|---|---|
| Sprachförderung mit Fachbezug | Hohe Alltagstauglichkeit |
| Mentoring & Buddy-System | Schnelle soziale Integration |
| Interkulturelle Teambildung | Nachhaltige Zusammenarbeit |
| Begleitung bei Anerkennung | Vermeidung von Frust & Kündigung |
| Sichtbare Aufstiegsperspektiven | Mitarbeiterbindung |
| Psychosoziale & soziale Angebote | Prävention von Einsamkeit & Burnout |
Quellen:
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BAG Migration (CH): „Pflegekräfte aus Drittstaaten – Chancen und Grenzen“
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Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM)
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Tertianum Pflegegruppe Schweiz: Interne Berichte über „Dropout-Raten“ bei ausländischen Fachkräften
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WHO-Bericht 2023: „Migrant Nurses in Europe – Push/Pull Dynamics and Systemic Failures“
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Deutscher Pflegerat / Verdi Studien 2021–2023
-
Bericht „Erfahrungen indischer Pflegekräfte im Ausland“ – SkillBee, 2024
-
Fachbericht WHO: „Health worker migration policy and system capacity“ (2023)
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Erfahrungsberichte in Plattformen wie: LinkedIn, Care Migration Blog, Springer Pflege
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